​​SOP zur Durchführung von Zwangsmassnahmen bei Eigen- und Fremdgefährdung ​

Inhaltsverzeichnis

Autorin: M. Bolten
Version: 11/2025

KONZEPT

1 Zielsetzung

Diese SOP regelt das Vorgehen bei der Anordnung und Durchführung von Zwangsmassnahmen bei psychiatrischen Patientinnen mit anhaltender Nahrungsverweigerung zur Sicherstellung einer rechtlich, medizinisch und ethisch korrekten Behandlung bei vitaler Gefährdung.   

2 Geltungsbereich

Diese SOP gilt für alle Mitarbeitenden des Kinderspitals Zentralschweiz (KidZ): K&L Dienst, Pflege, Pädiatrie und alle somatischen Fachdisziplinen, die in die Behandlung von psychiatrischen Patientinnen mit Nahrungsverweigerung involviert sind.   

3 Einleitung und ethischer Rahmen

Das vorliegende Konzept beschreibt indikationsbezogene, rechtlich abgesicherte und multiprofessionell abgestimmte Vorgehensweisen zur Anwendung von Zwangsmassnahmen in besonders schwerwiegenden Fällen von Nahrungsverweigerung bei Patient:innen mit einer schwerwiegenden Nahrungsverweigerung z.B. im Rahmen einer Anorexia nervosa (AN) im KidZ. Zwangsmassnahmen bei solchen Patientinnen stellen einen tiefgreifenden Eingriff in deren Persönlichkeitsrechte dar und sind nur unter strengen Voraussetzungen zu rechtfertigen. Ziel solcher Zwangsmassnahmen ist ausschliesslich der Schutz des Lebens und der Gesundheit der Patient:innen – nicht die Durchsetzung rein pädagogischer Ziele.   

4 Definitionen

  • Zwangsmassnahmen: Medizinische oder pflegerische Interventionen gegen den erklärten oder mutmasslichen Willen der Patientin, z. B. Zwangsernährung, medikamentöse Sedierung, Fixierungen oder Einschränkungen der Bewegungsfreiheit. 

  • Urteilsfähigkeit: Beurteilung der Fähigkeit der Patient:in, Bedeutung und Tragweite medizinischer Entscheidungen zu verstehen und auf dieser Basis zuzustimmen oder abzulehnen. 

  • Zwangsernährung: Ernährung über eine Sonde oder intravenös, wenn orale Nahrungsaufnahme verweigert wird. 

  • Fixierung: Mechanische oder medikamentöse Einschränkung der Bewegungsfreiheit. 

5 Grundprinzipien

  • Ultima Ratio: Zwangsmassnahmen dürfen nur bei unmittelbarer Selbstgefährdung und nach Ausschöpfung aller freiwilliger therapeutischer Massnahmen erfolgen. 

  • Verhältnismässigkeit: Massnahmen müssen geeignet, erforderlich zumutbar und zeitlich begrenzt (max. 24h ohne Neubeurteilung) sein.   

  • Ziel: Rasche Rückkehr zu freiwilliger Mitwirkung.   

  • Rechtskonformität: Die Durchführung von Zwangsmassnahmen erfolgt nur auf gesetzlicher Grundlage (z. B. Kindes- und Erwachsenenschutzrecht, kantonaler Gesundheitsgesetzgebung oder – bei Jugendlichen – Zwang nach Psychiatriegesetz).   

  • Dokumentation: Jede Massnahme muss sorgfältig dokumentiert werden (Verlauf, Wirkung, Alternativen, Belastung der Patientin).   

6 Indikationen für Zwangsmassnahmen

  • Akute vitale Gefährdung durch: 

  • Schwerwiegende Elektrolytstörungen (Schweres Refeeding-Syndrom) 

  • Herzrhythmusstörungen/schwerwiegende EKG Veränderungen (zusätzlich zu Sinusbradykardie) 

  • QTc>490ms 

  • AV-Block II°, Typ Mobitz mit Symptomen 

  • HF im Wachzustand </= 30/min 

  • Anderweitige schwerwiegende Organfunktionsstörungen nach individueller Absprache mit IPS OA 

  • Weigerung zur Nahrungsaufnahme trotz ärztlicher Aufklärung und therapeutischer Intervention.  

  • Ablehnung lebensnotwendiger medizinischer Massnahmen bei fehlender Einsichtsfähigkeit.  

  • Psychiatrische Komorbiditäten, z.B. psychotische Zustände, Zwänge, suizidale Impulse mit akuter Selbstgefährdung. 

7 Vorgehen und Ablauf

Entscheidungsfindung (innerhalb 6-12h bei akuter Gefährdung) 

Schritt 

Verantwortlich 

Massnahme 

Arzt/Ärztin (leitend) 

Medizinische Beurteilung und Risikoeinschätzung 

Psycholog:in / Psychiater:in 

Einschätzung der Einsichts- und Urteilsfähigkeit 

Interdisziplinäres Team 

Besprechung und Protokollierung der Situation 

Juristische  /ethische 

Abklärung 

Rücksprache mit Kinderschutzgruppe/Ethikkommission der LUKS (wenn möglich), juristischer Beratung seitens LUKS   

Eltern/Sorgeberechtigte 

Aufklärung und Mitteilung 

Dokumentation 

Schriftliche Anordnung durch Arzt/Ärztin 

Anordnung von Zwangsmassnahmen 

  • Schriftliche ärztliche Anordnung  

  • Rechtsgrundlage und Indikation dokumentieren  

  • tägliche Reevaluation  

  • Umgehende Mitteilung an Eltern und gesetzliche Betreuung  

  • Information der Klinikleitung des KidZ 

Durchführung 

  • Ruhige, transparente Kommunikation mit Patientin (sofern möglich)  

  • Präsenz erfahrener Pflegemitarbeitender 

  • Zwangsernährung (siehe Anhang): Standardisiert gemäss Leitlinie (z.B. nasogastrale Sonde, parenteral nur in Ausnahmefällen)  

  • Sicherung der physischen Unversehrtheit (keine gewaltsame Fixierung ohne dringliche Notwendigkeit)  

  • Einsatz deeskalierender Begleitmassnahmen (z.B. medikamentöse Sedierung bei hoher Anspannung und Widerstand)  

  • Psychologische Betreuung vor und nach der Massnahme durch K&L Dienst (Mo-Fr) 

Bereich 

Massnahme 

Verantwortlich 

Ernährung 

Sondenernährung (nasogastral) nach Schema, ggf. stationäres Refeeding-Protokoll 

Pflege / Ernährungsteam 

Überwachung 

Vitalzeichenkontrolle min. alle 2 h, engmaschige Laborüberwachung   

Pflege / Ärzteteam 

Sicherheit 

Einzelzimmer mit Sichtkontakt 

Pflege / Teamleitung 

Sedierung 

Nur bei massiver Agitation/Widerstand, nach Rücksprache mit K&L Team   

Ärzteteam / Pflege (ggf. Einbezug des Anästhesieteams)   

Fixierung 

Nur bei akuter Selbstgefährdung, nach gesetzlichen Vorgaben, Dauerüberwachung   

Ärzteteam / Pflege 

Kommunikation 

Ehrliche, ruhige Erklärung der Massnahme; möglichst partizipativ 

Alle Berufsgruppen 

Krisenintervention 

Psychologische Unterstützung (Mo-Fr) 

K&L Team 

 

8 Evaluation

  • Tägliche interdisziplinäre Evaluation, ob Massnahmen fortgeführt werden müssen  

  • Psychologische Aufarbeitung mit dem Patienten/der Patientin durch K&L Dienst (Mo-Fr): Ziel ist Wiederherstellung des Vertrauens  

  • Elterngespräche zur Begleitung und Reflexion mit K&L Dienst (Mo-Fr) 

  • Team-Supervision geleitet durch K&L Dienst zur Bearbeitung emotionaler Belastung des Behandlungsteams  

  • Ethische Fallbesprechung, falls Massnahme länger als 72 Stunden oder wiederholt notwendig sind 

9 Nachsorge

Bereich 

Massnahme 

Patientin 

Psychologische Begleitung zur Verarbeitung der Massnahme durch K&L Team (Mo-Fr) 

Familie 

Gemeinsame Aufarbeitung, Vermittlung der Notwendigkeit durch Eltern/Sorgeberechtigte   

Team 

Nachbesprechung im interprofessionellen Setting/Supervision   

Dokumentation 

Indikation, Durchführung, Verlauf, Belastung, Evaluation   

 

10 Anhang

Rechtliche Grundlagen: ZGB Art. 307 ff.: Kindesschutzmassnahmen  

Gesundheitsgesetz Kanton Luzern, Gesundheitsgesetz Kanton Zug § 39, Gesundheitsgesetz Kanton Uri Artikel 48, Gesundheitsgesetz Kanton Obwalden Artikel 58 und 59 

Empfehlungen der SAMW / Kommentar der SGKJPP 

Checkliste Einwilligungsunfähigkeit  

Kommunikationsleitfaden für schwierige Gespräche mit Patient:innen/Eltern  

Refeeding-Schema (medizinisch-pflegerisch)

​​Sedierung zur Sondenernährung auf der Abteilung (UZ)​

Ziel: Stressarme Sondenernährung unter Sedierung für psychologisch belastete Patient:innen mit Ess- und Trinkverweigerung. 

Strukturierter Ablauf 

Zeitfenster: 13-16 Uhr (Absprache NeoIPS-OA und Stations-OA) 

Dauer: ca. 45-60min (von Sedierungsbeginn bis Patient:in wieder wach ist) 

Beteiligte Teams:  

  • Stationsteam: OA/AA & Pflege 

  • NeoIPS-Team: OA/AA & Pflege 

  • K&L (Vor- und Nachbegleitung; Mo-Fr) 

Back-up: Falls NeoIPS nicht verfügbar ist, könnte das Anästhesie-Team im Saal 4, Stock B eventuell Hand bieten (Kommunikation NeoIPS/Anästhesie). Frühzeitig Dienst-OA Anästhesie informieren: Tel. 6066 (Mo–Fr 07–17 Uhr) oder Tel. 1500 (24h/7d) 

 

Vorbereitung (Team Time-Out alle Teams zs. vor Start) 

Pädiatrie Stations-Team: 

1) Untersuchungszimmer vorbereiten:  

  • Monitor mit QRS-Ton & Alarmgrenze Puls < 40/min 

  • O₂-Maske, Absaugkatheter mit funktionierender Absaugeinrichtung, Notfallrucksack 

2) IV-Zugang prüfen (schmerzfrei durchgängig). Falls nicht möglich → Für einen neuen IV-Zugang richten und NeoIPS frühzeitig informieren  

3) Ernährungstrolley:  

  • Magensonde, Nahrung (in Spritzen oder Pumpe), persönliche Medikamente 

  • Trolley wird ins UZ gebracht, wenn Patient sediert, ist 

 

NeoIPS-Team:  

  1.  Sedations-Medikamente inkl. Reserven und Notfallblatt mitbringen 

  1.  Ggf. Sondermaterial (Arrow) für neuen Zugang und Ultraschallgerät. 

  1.  Schichtleitung (Tel.1240) informieren, dass ein NeoIPS-Team im 2. Stock ist 

 

K&L (Mo-Fr, am Wochenende Team Pädiatrie, idealerweise Bezugspflege/-team): 

  • Patient:in vor- und nachbereiten (kurze Besprechung vor der Massnahme und Aufarbeitung nach der Massnahme) 

  • Motivationsarbeit in psychotherapeutischen Gesprächen 

  • Skills zur Bewältigung (z. B. Stofftier, Musik, Decke) organisieren und der Patientin mitgeben 

 

Durchführung 

  1. Prämedikation im UZ: 

  • Pflege bereitet Patient:in vor und bringt sie ins UZ 2. Stock 

  • Midazolam i.v. durch NeoIPS 

  1. Sedierung: 

  • Ketamin + Propofol (Bolus, dann Dauerinfusion) durch NeoIPS 

  1. Sondenernährung: 

  • Magensonde einlegen 

  • Nahrung über Bolus oder Pumpe verabreichen (Dauer: 45 → 30 → 20 Min) 

  • Oberkörper 30° hochlagern (Aspirationsgefahr!) 

  • Positive Rückmeldung während Sedierung 

  1. Nach der Ernährung: 

  • Alle Materialien entfernen, bevor Patient:in aufwacht 

  1. Aufwachen & Rückkehr: 

  • NeoIPS bleibt bis Schutzreflexe zurück 

  • Pädiatrie Pflege bringt Patient:in zurück ins Zimmer 

  • Überwachung gemäss Pflege-Richtlinien Pädiatrie (post-interventionell) 

  1. Psychologische Nachbetreuung durch K&L (Mo-Fr) 

Debriefing 

  •  Gemeinsames Nachgespräch: NeoIPS, Stationsteam und K&L (Mo-Fr) 

  •  Was lief gut? Was kann verbessert werden? 

 

Medikamente (NeoIPS): 

  •  Midazolam: 0.05–0.1 mg/kg i.v. (max. 2 mg), 5 Min vor Start 

  •  Esketamin: 0.6–1.3 mg/kg i.v. als Bolus 

  •  Propofol:  

  • Bolus: 0.5–2 mg/kg i.v. 

  • Dauerinfusion: 2–10 mg/kg/h i.v., titriert 

  • Evtl. Sauerstoffgabe 

 

Dokumentation und Abrechnung 

  1.  Standardisierter EPIC-Eintrag durch NeoIPS-Team 

  1.  Abrechnungszettel für S. Müller ausfüllen 

  1.  Sedierungszeit, Medikamente und Vorkommnisse dokumentieren 

Standardisierter EPIC-Eintrag (SmartPhrase: DOKUZWANGSERNAEHRUNG)  

Stress- und Belastungsmanagement für Behandlungsteams bei Zwangsmassnahmen

Zwangsmassnahmen (Fixierungen, Zwangsmedikation, Zwangsernährung) sind für medizinisches Fachpersonal emotional hochbelastend, da sie dem Grundprinzip der Fürsorge und Autonomie respektierenden Pflege widersprechen. Häufige Belastungsfaktoren sind: 

  • Erleben von Widerspruch zwischen ethischen Werten und rechtlicher/pflegerischer Pflicht 

  • Stress durch Konflikte im Team, mit den Patienten oder mit Angehörigen 

  • Innere Schuldgefühle („ich tue dem Patienten Gewalt an“) 

  • Körperliche Belastung und erhöhte Adrenalinausschüttung in akuten Situationen 

  • Nachhall im Team oder persönliche Grübeleien 

Wenn Fachpersonal Zwangsmassnahmen durchführt, erleben sie häufig ein Spannungsfeld zwischen dem, was sie beabsichtigen (Hilfe, Schutz, Gefahrenabwehr) und dem, was beim Patienten ankommt (Zwang, Einschränkung, manchmal auch als Gewalt). Dieses Spannungsfeld kann zu Schuldgefühlen führen. 

 

Kognitive Bewältigungsstrategien 

Realistische Selbstvergewisserung: „Die Massnahme dient der akuten Gefahrenabwehr, nicht der Machtausübung.“ 
Anerkennung der professionellen Rolle: „Ich handle im Rahmen von gesetzlichen Vorgaben und medizinischer Indikation.“ 
Reframing: Zwang als kurzfristiger Schutz zur Ermöglichung langfristiger Therapie. Selbstinstruktion in der Situation: Kurze innere Sätze wie „Ruhig bleiben – klar handeln – Sicherheit geht vor“. 
Abgrenzung von persönlicher Schuld: Differenzieren zwischen Absicht (Hilfe, Schutz) und Wirkung (erlebter Eingriff).

"Meine Absicht war Schutz, nicht Verletzung.“ 

„Die Wirkung für den Patienten war Eingriff und Schmerz – das sehe ich und nehme es ernst.“ 

„Zwischen Absicht und Wirkung klafft eine Lücke – die ist tragisch, aber nicht meine persönliche Schuld.“ 
 

Emotions- und Stressregulation 

Atemtechniken (4–6 tiefe Atemzüge nach einer Zwangssituation, um Sympathikus-Aktivierung zu reduzieren). 

Kurzrituale nach belastenden Massnahmen: Händewaschen bewusst als symbolisches „Abstreifen“ der Belastung, kurzes Innehalten. 

Reflexion im Team: Gemeinsames Nachbesprechen reduziert Schuldindividualisierung. 

Körperliche Aktivierung: Nach einem Einsatz kurze Bewegung (Treppensteigen, Dehnen), um Stresshormone abzubauen. 

 

Team- und Organisationsstrategien 

Debriefing nach jeder Zwangsmassnahme: strukturiert (Was war notwendig? Was lief gut? Wo können wir verbessern?). 

Peer-Support: Austausch mit Kolleg:innen, die die Situation mitgetragen haben. 

Verteilung der Verantwortung: Massnahmen immer im Team beschliessen und durchführen, um Überlastung Einzelner zu verhindern. 

Schulung in Kommunikation und Deeskalation: Prävention von Eskalationen vermindert die Häufigkeit von Zwang. 

 

Haltungsaspekte 

Eine tragfähige Haltung kann helfen, Zwangshandlungen nicht als persönliches Scheitern, sondern als Teil einer komplexen professionellen Aufgabe zu integrieren. 

Philosophie der Fürsorge (Care-Ethics): Auch wenn kurzfristig die Autonomie eingeschränkt wird, geschieht dies aus einer Haltung des Schutzes und Mitgefühls. 

Aristotelische Mitte: Balance zwischen Extremen – nicht willkürliche Härte, nicht naive Passivität, sondern besonnene Mitte im Sinne praktischer Klugheit (phronesis). 

Existenzphilosophie: Anerkennung, dass menschliches Leben Konflikte und Paradoxien enthält. Pflege bewegt sich zwischen Nähe und Distanz, Autonomie und Fürsorge. 

Achtsamkeitsbasierte Haltung: Akzeptieren, dass Unangenehmes zum Beruf gehört, ohne es zu verdrängen oder sich davon überwältigen zu lassen. 

Professionelle Demut: Wissen, dass Zwang nie „gut“ ist, aber manchmal das „geringere Übel“ darstellen kann. 

Selbstfürsorge und langfristige Resilienz 

Supervision nutzen. 

Selbstreflexionstagebuch: Gedanken und Gefühle nach belastenden Situationen schriftlich ordnen. 

Grenzen setzen: rechtzeitig Pausen nehmen, um chronische Erschöpfung zu vermeiden. 

Sinnperspektive bewahren: Pflege bedeutet, im Spannungsfeld zwischen Schutz und Respekt vor Autonomie zu handeln. Belastende Momente sind Teil einer grösseren Aufgabe.